Dorfgemeinschaft Kiebingen "Wenn's alloi nemme goht …"

Paul Lechler-Preis 2015 für die “Dorfgemeinschaft Kiebingen“

Ein Dorf übernimmt den Generationenvertrag

In Würde altern“

Stuttgart, Rottenburg-Kiebingen
„Wenn’s alloi nemme goht?“ Tja, was dann? Diese Frage stellten sich 60 engagierte Kiebinger schon ab 2010 und gründeten 2014 den Verein Kiebinger Dorfgemeinschaft. Bürger des Rottenburger Teilortes übernehmen damit nicht nur die örtliche, persönliche Nachbarschaftshilfe und Pflege, sondern integrieren auch eine selbstverantwortete Wohngemeinschaft für alle Pflegegrade sowie einen Bürgertreff mitten im Ort – in einem Neubau, der voraussichtlich im Herbst dieses Jahres bezogen wird.

Für das Gesamtprojekt mit seinen vielen Teilinitiativen erhielt die Dorfgemeinschaft Kiebingen e.V. am Donnerstag, 26. März 2015, im Rahmen einer Feierstunde in Stuttgart den Paul Lechler-Preis 2015, den die gleichnamige Stiftung jährlich verleiht. Den insgesamt mit 50.000 Euro dotierten Preis teilen sich die Kiebinger, die strahlend einen Scheck über 20.000 Euro entgegen nahmen, mit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart.

In seiner Begrüßung hob Stiftungsvorstand Dieter Hauswirth den Charakter herausragender christlich-sozialer Stiftungswerke um die Wende zum 19. Jahrhundert hervor. So habe auch Paul Lechler im Geiste eines Gustav Werner als Sozialreformer gewirkt. Seine Idee lebe bis heute in der Lechler-Stiftung weiter. Walter Herwarth Lechler, der Urenkel des Gründers, zeichnete den langen Weg der Stiftung vom Jahr 1875 bis heute nach. Er stellte die enge Verbindung zwischen Lechlers christlich sozialem Vermächtnis und der Mitverantwortung von Unternehmen in den Mittelpunkt. Kern dieses Auftrages sei die bis heute realisierte Vorgabe für Unternehmen des Hauses Lechler, je zehn Prozent des jährlichen Gewinns an eine soziale Einrichtung zu spenden.

Für den diesjährigen Preis unter dem Motto „In Würde altern“ sei nun aus immerhin 24 Anträgen die „Dorfgemeinschaft Kiebingen e.V.“ als einer von zwei Preisträgern einstimmig ausgewählt worden. Gerade in einer Leistungsgesellschaft, so Dr. Johannes Hahn, Leiter des Paul Lechler-Krankenhauses in Tübingen, seien die Würde und die Wertschätzung Behinderter und Demenzkranker zu schützen. Oft seien emotionale, körperliche Zuwendung sowie aktive soziale Einbindung die richtige Wahl, um den Verlust an Autonomie, das Leiden – aber auch die Not der Angehörigen – erträglicher zu machen. Gerade deshalb freue er sich „besonders über die wegweisende Aktivität in Kiebingen“.

Denn die Kiebinger setzen mit ihrem Projekt genau das um, was der Ausschreibungstext für den Lechler-Preis als wesentliches Entscheidungskriterium definiert: zu gewährleisten, dass die Menschen möglichst lange in der eigenen Wohnung, in der vertrauten Nachbarschaft bleiben und am sozialen Leben teilhaben können. So komme man dem Wunsch nach Selbstbestimmung und Würde auch in schwierigen Lebenssituationen nach.

Für die Initiatoren und Mitglieder der 23köpfigen Delegation, die aus der 2050-Einwohner-Gemeinde in die Landeshauptstadt reiste, war die Preisverleihung ein großer Moment. In einer Präsentation umrissen sie die vielfältigen Aktionen und den Aufbau eines weit greifenden Netzwerks: Damit ältere Mitbürger auch mit hohem Pflegeaufwand in der Dorfgemeinschaft bleiben können, bereiten sich etliche Kiebinger in gezielten Kursen und Schulungen professionell auf individuelle Alltagsbegleitung und passgenaue Pflege vor. Dabei geht es u.a. um praktische Hilfen im Alltag, um Unterstützung von Angehörigen sowie um die Aufnahme in eine selbstverwaltete Pflegewohngruppe, wenn’s zuhause denn gar nicht mehr geht. Dafür werden in der Ortsmitte durch den Herrenberger Bauträger Bau Invest Immobilien zurzeit Gebäude mit Wohnungen, Räumen für die selbstverantwortete Wohngemeinschaft und einem zusätzlichen Bürgertreff fertig gestellt. Der Bezug ist für Herbst 2015 geplant. 

Nach der Preisübergabe bedankte sich der erste Vorsitzende der Dorfgemeinschaft Kiebingen, Stefan Ruge, für diese Anerkennung. Ortsvorsteherin Elisabeth Schröder-Kappus skizzierte den langen Weg von der ersten Projektidee – „Kiebinger helfen Kiebingern“, einem ersten offenen Netzwerk gegenseitiger Unterstützung – bis zu den heutigen Aktivitäten. Ebenfalls aus dem Vorstand berichtete Sigrun Bachmann vom Aufbau der Nachbarschaftshilfe im Ort und den laufenden Ausbildungskursen zur Alltagsbegleiterin in der Wohngruppe. Geschäftsführer Michael Lucke erläuterte die komplexe organisatorische und finanzielle Struktur des Kiebinger Projektes. Der Kinderchor der Musikschule Böblingen umrahmte die Feierstunde musikalisch.

Ausblick: In den nächsten Wochen befassen sich die Arbeitsgruppen des Vereins mit der Ausstattung und Einrichtung der Wohngemeinschaft und des Bürgertreffs. „Mitarbeit sowie finanzielle Unterstützung sind herzlich willkommen“, ermuntert Siegfried Kappus weitere Interessierte, die Arbeit zu unterstützen.

S. Kappus (Artikel erschienen in der SWP Rottenburg/Kiebingen

Link zur Paul Lechler Stiftung

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